Auf der Mauer, auf der Lauer...

Die erstaunliche Mimikry der Ameisensichelwanze

Wanzen gehören sicherlich nicht zu den Tieren, an die Du mit Zuneigung denkst. Hast Du aus Kleinkindertagen vielleicht noch das Kinderlied „Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ‘ne kleine Wanze“ im Hinterkopf, ändert sich das wohlige Gefühl spätestens mit dem Anblick einer ausgewachsenen Bettwanze beim Urlaub in exotischer Umgebung.

Dabei ist es mit den Wanzen wie in jeder normalen Familie: Es gibt nur ein schwarzes Schaf – so wie die Bettwanze unter ihren weltweit 40.000, in Mitteleuropa knapp 1.000 anderen Verwandten, die den Menschen eher meiden. Wanzen gibt es in allen Varianten: kleine, große, bunte, einfarbige, runde, eckige – und besonders raffinierte.

Eine davon ist die Ameisensichelwanze Himacerus mirmicoides.

 

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*räusper*

 

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Ich sagte: Eine davon ist die Ameisensichelwanze Himacerus mirmicoides!

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Ja, genau, dich meine ich!

Du bist die Heldin unserer Geschichte!

Komm, zeig dich doch mal von der Seite!

Ihr Name deutet auf zwei Charakteristika des Tieres. In der Ruhestellung hält es seinen langen Saugrüssel sichelartig nach hinten gekrümmt - daher die Namensgebung Ameisensichelwanze.

Und was hat sie mit Ameisen zu tun?

Dazu kommen wir noch.

 

Unvollkommene Entwicklung

Am wohlsten fühlt sich das tag- und nachtaktive Tier dort, wo auch wir es uns gut gehen lassen: im heimischen Garten oder in der freien Landschaft. Eines Tages im Juni fielen mir beim Betrachten einer Gruppe blühender Margeriten (Leucanthemum vulgare) vor meiner Terrasse mehrere kleine Tierchen auf. Es handelte sich um Larven der Ameisensichelwanze, die anscheinend kurz zuvor geschlüpft waren. Ich beschloss, eine von ihnen einige Wochen mit dem Fotoapparat zu begleiten. Denn Ameisensichelwanzen verblüffen gleich mehrfach.

Die meisten Wanzen entwickeln sich vom Ei zum erwachsenen Insekt (Imago) über fünf Larvenstadien (L1 bis L5). Dabei werden die Larven (bei Wanzen auch Nymphen genannt) in der Regel von einem Stadium zum nächsten der Imago äußerlich immer ähnlicher. Innerhalb der durch Häutungen getrennten Entwicklungsschritte gibt es keine Puppenphase. Dieses Entwicklungsprinzip wird in der Entomologie, also der Insektenkunde, "unvollkommene Entwicklung" genannt.

Bei der Ameisensichelwanze liegt eine kleine Besonderheit vor. Zwar entwickelt auch sie sich ganz wanzentypisch mittels Häutungen über fünf Larvenstadien zum reifen Tier. Jedoch ähnelt die Larve nicht zunehmend dem erwachsenen Insekt, sondern tarnt sich auf fast perfekte Art.

Die fünf Larvenstadien

Ameisen-Mimikry

Die junge Larve (L1 und L2) ähnelt kleinen Ameisen der Gattung Myrmica, wie zum Beispiel der Roten Gartenameise (Myrmica rubra). Erst wenn die kleine Wanzen-Larve ihren Kopf hebt, ist ein langer Rüssel zu erkennen. Ameisen verfügen stattdessen über starke, beißende Mundwerkzeuge, bei denen vor allem die Kiefer (Mandibeln) äußerlich sichtbar sind. Auf dem Rücken der Ameisensichelwanze, dem sogenannten Thorax, befinden sich kleine, dornenartige Höcker. Ameisen sind an dieser Stelle schmaler und haben keine Höcker.

Die äußerliche Nachahmung eines anderen Tiers wird in der Biologie als Mimikry bezeichnet. Hierbei ist es das Ziel des Nachahmers, sich eine bestimmte Eigenschaft einer anderen Tierart zu eigen zu machen. Warum sich die Ameisensichelwanze ausgerechnet der Ameisenoptik annähert, ist nicht sicher geklärt. Schützt sie sich vielleicht so vor Fressfeinden? Ameisen verfügen schließlich über eine hohe Aggressivität und Kampfkraft. Nur wenige Jäger nutzen die kleinen, jedoch sehr wehrhaften Mini-Ritter als Nahrungsquelle. Somit würde eine Ähnlichkeit die Überlebenschancen deutlich erhöhen – wie bei einem Schaf im Wolfspelz.

Und dennoch: Es gibt einen spezialisierten Feind, der sich selbst durch perfekte Mimikry nicht täuschen lässt - die Schmuckgrabwespe Dinetus pictus, auch Sichelwanzengrabwespe genannt...

Lesen Sie die komplette Reportage in MAKROFOTO Nr. 4

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